NÜRTINGEN (hfwu). Thomas Piketty gilt vielen als Kronzeuge einer zunehmenden ökonomischen Ungerechtigkeit. Im Studium generale an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt (HfWU) stellte Kai Daniel Schmid die Annahmen des französischen Starökonomen mit Blick auf Deutschland auf den Prüfstand. Mit einem überraschenden Ergebnis.
„Aktuelle Entwicklungen zur Ungleichheit in Deutschland“, so lautete der Titel des Vortrags von Prof. Dr. Kai Daniel Schmid von der Hochschule Heilbronn. Schmid setzte am Standort der HfWU in Nürtingen den Schlusspunkt des Studium-generale-Programms im Sommersemester, das unter der Überschrift „Gerecht wirtschaften“ stand.
Ungleichheit und Ungerechtigkeit haben nicht nur eine ökonomische Dimension, das liege auf der Hand, so Schmid. Auch etwa Gesundheit und Aufstiegs- oder Einflussmöglichkeiten seien hier wichtige Aspekte. Als Volkswirtschaftler nehme er aber die Verteilung von Einkommen und Vermögen in den Blick. Brisanz habe das Thema, weil mit ihm tatsächlich mehr als nur ökonomische Fragen berührt werden. Es betreffe zum einen das individuelle Gerechtigkeitsempfinden. Wer bereit ist, sich anzustrengen und Risiken aufzunehmen, muss die Aussicht haben, dafür belohnt zu werden. „Ungleichheit wird so zum Co-Piloten der Wohlstandsentwicklung“, ist Schmid überzeugt. Denn von diesem Einsatz profitiere die ganze Gesellschaft. Dem gegenüber steht, dass es nicht allen im gleichen Maß möglich ist, diesen Einsatz zu erbringen. Die Startbedingungen, sei es das Elternhaus, die Gesundheit oder schlicht glückliche Umstände, sind nicht für alle gleich. „Eine gute Balance zu finden zwischen dieser positiven und negativen Wirkung von Ungleichheit, das ist ein schwieriger und andauernder Aushandlungsprozess für Politik und Gesellschaft“, sagte Schmid.
Was aber, wenn eine zunehmende Ungleichheit nicht wesentlich vom Einsatz der Wirtschaftsakteure und damit aus dem Wirtschaftswachstum resultiert? Wenn sich Ungleichheit selbst verstärkt? Dann gerät die sozioökonomische Balance in eine gefährliche Schieflage. Das sind vieldiskutierte Annahmen des französischen Ökonomen Thomas Piketty. Schmid nahm diese zum Ausgangspunkt, um mit aktuellen Zahlen zu klären, wie sich die Sache konkret mit Blick auf Deutschland verhält.
Ein Befund bezüglich der Einkommensverteilung auf Basis von Daten von Eurostat von 2020 und weiteren Quellen: Die unteren 50 Prozent verfügen über circa 30 Prozent der Einkommen, die oberen zehn Prozent über 25 Prozent und das oberste eine Prozent über zehn Prozent. Bei den Vermögen ist die Häufung am oberen Rand noch ausgeprägter. Hier verfügen die reichsten zehn Prozent etwa über 65 Prozent und allein das oberste eine Prozent über 35 Prozent der Vermögen.
Um beurteilen zu können, wie ausgeprägt die Dynamik „aus Ungleichheit wird mehr Ungleichheit“ ist, gilt es folglich, so der Wirtschaftswissenschaftler, sich die Daten zu zwei Fragen anzuschauen: Welcher Anteil der Einkommen kommt aus Vermögen und welcher Anteil des Einkommens wird zu Vermögen? Bei den zehn Prozent mit den höchsten Einkommen kommen rund 17 Prozent dieser Einkommen aus deren Vermögen, beispielsweise als Kapitalerträge oder Mieteinnahmen. „Das ist nicht extrem viel“, so Schmid. Die oberen zehn Prozent beim Vermögen verfügen durchschnittlich über rund 60.000 Euro Jahreseinkommen. Geht man von einer Sparquote von 40 Prozent aus, dann liegt die Ersparnis dieser Gruppe im Schnitt bei jährlich 24.000 Euro. Das entspricht 1,3 Prozent des mittleren Vermögens dieser Gruppe, so die Rechnung von Schmid.
Gibt es in Deutschland also die gefährliche Ungleichheitsdynamik vor der Piketty warnt? Eher nicht, lautet die Antwort von Schmid. Eine selbstverstärkende Tendenz zur Ungleichheit sei zwar anhand der Daten sichtbar. Bei der unteren Hälfte der Verteilung von Vermögen und Einkommen sei das aber praktisch irrelevant. Bei den oberen zehn Prozent seien die Effekte dagegen deutlich, die Größenordnung aber moderat. Fazit: Von einer problematischen Zuspitzung der Ungleichheit in Deutschland kann nicht gesprochen werden.