NÜRTINGEN (hfwu). Keine Zeit, zu wenig Zeit für andere wichtige Dinge. Dass diese Erfahrung wenig mit dem vermeintlich unzureichendem eigenen Zeitmanagement zu tun hat, viel dagegen mit gesellschaftlichen Strukturen, das erläuterte die Journalistin und Autorin Teresa Bücker im Rahmen des Studium generale an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt (HfWU) in Nürtingen. Sie plädierte für eine eigenständige, neue Zeitpolitik.
Zu wenig Zeit für die Familie, zu viel im Büro, zu wenig für die Betreuung von Angehörigen, zu viel im Stau. „Viele glauben, Zeitstrukturen und der entsprechende Umgang mit Zeit seien naturgegeben“, ist Teresa Bücker überzeugt. Innerhalb dieser Zeitstrukturen gebe es zudem Ungerechtigkeiten. Denn die Strukturen geben vor, für wen welche Zeiten verfügbar sind. „Zeit ist eine Dimension von Gerechtigkeit“, brachte die Sachbuchautorin und ausgezeichnete „Journalistin des Jahres“ ihr Anliegen auf den Punkt.
Zum Vortrag von Bücker unter dem Titel „Zeitgerechtigkeit ist keine Utopie“ im Rahmen des Studium generale waren rund 50 Interessierte an die HfWU in Nürtingen gekommen. Mit den Pendelwegen führte Bücker ein konkretes Beispiel an, wie sich Status und Einkommen auf die individuelle Zeitverfügbarkeit auswirken. Wer sich keine Wohnung in der Stadt leisten kann, verbringt mehr Zeit auf dem Weg zum Arbeitsplatz oder zur Kita. „Zu wenig Zeit zu haben ist kein individuelles Problem, sondern gesellschaftlich erzeugt“, sagte die Journalistin und bekannte Bloggerin. Vor diesem Hintergrund könne ein oft propagiertes besseres individuelles Zeitmanagement grundsätzlich wenig ändern.
Ein gesellschaftlich erzeugtes Problem ist ein politisches Problem, so eine der Kernbotschaften von Bücker. In demokratischen Gesellschaften aber seien die Bedingungen, die das Problem hervorbringen, veränderbar. Noch gebe es allerdings kaum ein Bewusstsein dafür, welche weitgehende Bedeutung gegebene Zeitstrukturen haben. Denn sie legen fest, welche Personengruppen und für welche Art von Tätigkeiten in einer Gesellschaft Zeit verfügbar oder nicht verfügbar ist.
„Gesellschaft wird von mehr zusammengehalten als von bezahlter Erwerbsarbeit“, so die Referentin. Die meist von Frauen erbrachte Care-Arbeit zum Beispiel entziehe sich einer wirtschaftlichen Zeitlogik, die sich an Effektivität und Planbarkeit orientiere. Es bedürfte einer neuen Zeitkultur, die verschiedene Zeitlogiken integriere. „Wir haben kein geteiltes Verständnis für Zeitbedürfnisse in anderen Bereichen wie Care-Arbeit, sozialen Beziehungen oder gesellschaftlichem Engagement.“
Bücker sieht generell eine aktuelle Entwicklung, in der das Kümmern politisch und gesellschaftlich abgewertet wird. Caring – füreinander sorgen – müsse daher als politische Praxis wiederbelebt werden. Das setze nicht nur die entsprechende Haltung voraus, sondern auch die dafür notwendige Zeit. „Wir brauchen eine echte Zeitpolitik für alle“, so der Appell von Bücker, „eine Zeitpolitik, die Lebensqualität erhöht, Zeit gerecht verteilt, die ein engagiertes, involviertes, zugewandtes Leben ermöglicht unter dem niemand zusammenbricht.“