NÜRTINGEN (hfwu). Wir leben in einer hypernormalen Welt, in der nichts normal ist, aber alle so tun als ob. Das ist eine Gegenwartsanalyse, die Prof. Dr. Ziad Mahayni vorschlägt. Der Professor für Angewandte Ethik hielt einen Vortrag im Rahmen des Studium generale an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt (HfWU) in Nürtingen.
Zwei Fische schwimmen durchs Wasser. Ein älterer kommt in gegengesetzter Richtung angeschwommen. „Hey Jungs! Wie ist die Wasserqualität?“ Die jungen antworten nicht und schwimmen weiter. Nach einer Weile fragt der eine junge den anderen: „Was zum Teufel ist Wasser?“
In der westlichen Welt ist Normalisierung pathologisch geworden. Abnormales wird normalisiert und hingenommen, so der Befund von Dr. Ziad Mahayni. Mit der Parabel aus einer Rede von David Foster Wallace eröffnete der Professor für Angewandte Ethik an der Hochschule Karlsruhe eine Ethik-Ringvorlesung, die das Referat für Technik- und Wissenschaftsethik an den Hochschulen für Angewandte Wissenschaften (rtwe) zusammen mit HfWU veranstaltet.
Jede Sekunde wird Regenwald von der Fläche eines Fußballfeldes vernichtet. Jeden Tag sterben 150 Tierarten aus. Die ärmsten 50 Prozent der Weltbevölkerung besitzen zwei Prozent des Vermögens. In den vergangen zehn Jahren sind 30.000 Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken, so eine weitere Statistik, die Mahayni zitierte. „Diese Liste könnte ich noch ziemlich lange weiterführen. Das ist, was wir als normal hinnehmen.“
Für Mahayni stehen zwei Modelle beispielhaft dafür, wie insbesondere in Managementkreisen diese normale Welt beschrieben wird. Lange galt VUCA. Die Abkürzung steht für Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit (Ambiguität). Das neue, verschärfte VUCA sei BANI, so der Management-Experte. BANI steht für brittle (brüchig), anxious (verunsichert), nicht-linear und incomprehensible (unverständlich). Ob Klima, Finanzsystem, Migration oder Demokratie, die Welt werde zweifellos brüchiger. „Auch wenn etwas spröde ist, kann es trotzdem stark aussehen. So lange bis ein Kipppunkt erreicht wird. Dann fällt alles auseinander. Etwas Sprödes hat eine illusorische Stärke.“
In der BANI-Welt sei Resilienz die Antwort auf den drohenden Untergang. Mit Anpassungsfähigkeit und Widerstandsfähigkeit könne man auf der Welle der Überforderung reiten, so das Versprechen. „Wenn man genauer hinschaut, ist Resilienz nicht die Lösung dieser Krisen, sondern das Erkennen, keine Lösung zu haben“, ist Mahayni überzeugt. Resilientes Verhalten binde vielmehr die Energien, die für wirkliche Veränderungen nötig wären. „Resilienz ist das Valium des grünen Digitalzeitalters.“
Resilient zu sein beinhalte die Erwartung, dass immer alles so weitergehen wird, wie es jetzt ist. Auch wenn der technologische Fortschritt schneller und dynamischer wird, er trägt und er kennt nur eine Entwicklungslinie, so Mahayni. „Trotz aller heutiger Krisen können wir uns es kaum vorstellen, dass die Zukunft etwas anderes sein könnte als eine extrapolierte Gegenwart.“ Und doch oder gerade wegen dieser vorgeblichen Alternativlosigkeit bleibe bei den Menschen „ein dumpfes Gefühl, dass die Dinge nicht im Lot sind.“ Von VUCA und BANI zu sprechen klinge als hätten wir die Welt konzeptionell im Griff. Im Grunde unterdrückten wir aber damit nur das Unbehagen darüber, die Welt nicht mehr verstehen und steuern zu können. "Damit tragen wir zu einer Hypernormalisierung bei, mit der die Wahrscheinlichkeit des Kollapses zunimmt.“
Das Konzept der Hypernormalisierung stammt aus dem Werk von Alexei Yurchak, wie Mahayni erläuterte. Der Anthropologe hatte den Begriff zur Beschreibung des Lebens in der Sowjetunion entwickelt. „Es ist eine große Fassade, die in allen gesellschaftlichen Bereichen aufrechterhalten wird. Es wird simuliert, alles sei unter Kontrolle.“ Alle wüssten, dass es so nicht weitergehen kann, aber niemand habe eine Vorstellung davon, wie es anders sein könnte, deshalb gehe alles so weiter wie immer. „Dieses hypernormale Theater hat eine wichtige Funktion. Es hilft, den Blick von den immer größer werdenden Rissen abzuwenden.“
Abschließend betonte der Philosoph und Managementberater, dass die Hypernormalisierung nur ein Ansatz von vielen möglichen Gegenwartsdiagnosen sei. Und auch wenn er selbst nicht der möglichen Erwartung entsprechen könne, „nun einen 10-Punkte-Lösungsplan vorzulegen“, so liege der Wert dieser Zeitdiagnose darin, etwas sichtbar zu machen, was wir nicht mehr sehen. „Hypernormalisierung“, so Mahayni, „ist ein Konzept, das hilft zu erkennen: Das hier ist Wasser.“